Das Energietische Nachbarschaftsquartier Fliegerhorst Oldenburg
Erfolgreiche Bürgerbeteiligung dank eines Lernspiels
In Oldenburg entsteht auf einem ehemaligen militärischen Flugzeugstützpunkt ein Wohnquartier – die „Helleheide“. Eine alte Kaserne wird saniert, neue Wohnhäuser kommen hinzu. Ein eigenes Infrastrukturkonzept verknüpft Leben, Mobilität und vor allem die sektorenübergreifende Energieversorgung miteinander. Gesteuert wird diese durch ein intelligentes Energiemanagementsystem auf Quartiersebene.
Für viele Interessierte klingt das ziemlich abstrakt. Nicht jeder weiß, wobei ihm beispielsweise ein solches Lastmanagement künftig hilft. Deshalb macht der Partizipationsprozess einen großen Teil des dazugehörigen Forschungsprojekts ENaQ aus. Das „Energetische Nachbarschaftsquartier Fliegerhorst Oldenburg“ ist ein Leuchtturmprojekt der 2016 gestarteten Förderinitiative Solares Bauen/Energieeffiziente Stadt des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).
Die wissenschaftliche Leitung hat das Institut für Informatik OFFIS inne; und dessen Mitarbeiter Steffen Wehkamp und Mathias Lanezki lernten schnell, dass sich eine komplexe Energie-Infrastruktur bei Bürgerveranstaltungen nicht in zwei Sätzen erklären lässt.
„Wir haben dann über Medien nachgedacht, mit denen wir nicht nur erklären, sondern auch direkt in den Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern kommen“, erklärt Wehkamp, dem sich zu Beginn weitere Fragen stellten: „Wie schaffen wir Diskussionen über kontroverse Themen, zwischen Parteien, die sonst eher selten zusammentreffen?“
Bei der Suche stießen sie auf das Simulationsspiel „Changing the Game“ der dänischen Energieorganisation Crossroads, mit dem sich ein europäisches Energiesystem spielerisch modellieren lässt. „Als wir einen gesamten Abend bei diesem Spiel fast nur diskutierten, kam uns die Idee: So etwas brauchen wir auch!“, erinnert sich Wehkamp.
„Wer hier nur auf eine Karte setzt, der erreicht seine Ziele nicht“
„Forschungsprojekte beinhalten schwierige Materie und man betritt Neuland. Mathias und ich wollten diese Komplexität und vor allem den Bedarf an Austausch erlebbar machen“, erklärt er. Spielerisch könne man nun vermitteln, was ENaQ überhaupt ist. “Wir haben für viele Technologien, die wir in unserem Forschungsprojekt nutzen, eine Spielkarte – schon beim Anschauen sehen die Menschen also, was im Quartier „Helleheide“ passieren wird”, sagt Wehkamp, „und als Moderatoren sind wir live dabei, um zu hören, was die Anwohnerinnen und Anwohner darüber denken oder auch, welche Bedenken sie haben.“
Was ist eine Wärmepumpe? Was ein Elektrolyseur? Und was von beiden lohnt sich in unserem Wohngebiet? Die Karten geben Anhaltspunkte – aber Wirkung und Zusammenhänge der Maßnahmen erlebt man erst beim Spiel. Hier sollen Teilnehmer nämlich die Ziele der Bundesregierung für 2030, 2040 oder 2050 in drei Bereichen erreichen: CO2-Emissionen, Energieverbrauch und Mobilität.
Die PKW-Karte etwa kostet Geld und verbraucht Ressourcen, befriedigt aber das Bedürfnis nach Mobilität. Zu Beginn kommt der Strom noch aus dem Netz, Wärme aus dem Heizkessel und beides ist CO2-intensiv. Aber beispielsweise eine Wärmepumpe einzubauen und sich zurückzulehnen, sei zu wenig: „Wer hier nur auf eine Karte setzt, der erreicht seine Ziele nicht“, erklärt Wehkamp. Für die Energieversorgung kann man die Nachbarn ins Boot holen – das spart Geld und Ressourcen.
Am Ende bauen die Spieler also ein komplexes System – und das finden viele spannend.
Deshalb hat OFFIS entschieden, die Materialien auf der Projekthomepage gratis zur Verfügung zu stellen. Damit ist es möglich, das Spiel selbst zusammenzustellen. Zusätzlich ist das Spiel in geringer Auflage zum Selbstkostenpreis von 199 Euro erhältlich.
„Bei der Entwicklung des Spiels haben wir selbst schon jede Menge Rückmeldungen von Expertinnen und Bürgern einfließen lassen“, erklärt Lanezki. „Lernspiele sind ein tolles Werkzeug für die Bürgerbeteiligung und die Wissensvermittlung. Und machen natürlich Spaß.“
Parallel arbeitet er an einem wissenschaftlichen Paper zu diesem Thema. „Ernsthafte Spiele als Lehrinhalte und für die Bürgerbeteiligung funktionieren hervorragend. Ich nehme an, sie werden in Zukunft eine größere Rolle spielen“, sagt er.
„Man kann verschiedene Wissensebenen mitnehmen“
Als Mindestalter schlagen die Erfinder aber 16 Jahre vor. „Wir haben mit Pädagogen gesprochen und auch mit Kindern gespielt. Das Interesse ist da, nicht zuletzt durch die Fridays-for-Future-Bewegung“, erklärt Wehkamp. „Aber es gibt durchaus komplexe Elemente. Deshalb ist auch eine gut vorbereitete Moderation wichtig.“ Derzeit arbeiten die beiden an einem entsprechenden Video-Tutorial.
An Hochschulen komme das Spiel ebenfalls gut an. Mit sehr unterschiedlichen Rückmeldungen: Während Experten anfingen, über die abgedruckten Leistungswerte der Wärmepumpen zu diskutieren, sprachen Energie-Laien eher über den autofreien Sonntag. Den Erfindern ist beides recht. „Man kann verschiedene Wissensebenen mitnehmen“, sagt Wehkamp. „Schülerinnen und Schüler sehen: CO2 senken, Erneuerbare steigern, das ist beides gut. Und die Energietürme im Spiel visualisieren das auch. Hier muss der Moderator dann vielleicht nochmal den Unterschied zwischen Photovoltaik und Solarthermie erklären.
Spiele mögen als Partizipationsmaßnahmen in Forschungsprojekten noch ungewöhnlich sein – aber ENaQs „Neighborhood Edition“ von Changing the Game soll übertragbar sein. Dafür spricht nicht nur das wissenschaftliche Paper, sondern auch die Haltung der Macher: „Interessierte soll sich gerne an unseren Materialien bedienen, wir geben alles frei“, sagt Wehkamp. „Smart City ist häufig ein unkonkreter Begriff. Hier können Städte das für ihre Bürgerinnen und Bürger erlebbar machen.“
Lanezki und Wehkamp wechseln allerdings nicht in die Spielebranche. „Das Projekt ist spannend – aber der Aufwand ist ziemlich groß und eben nicht unser Tagesgeschäft.“ Eine Weile wird sie ihr Spiel aber noch beschäftigen: Das Projekt ENaQ läuft noch bis Ende 2022.
Eine digitale Live-Vorstellung des Spiels wurde von den Machern auf dem Digitaltag des Zentrums für digitale Innovationen Niedersachsen (ZDIN) angeboten. Das Veranstaltungsprogramm des Digitaltags kann hier nachgelesen werden.