Wo früher Militärübungen stattfanden, entsteht in Gießen ein energieeffizientes, netzdienliches Neubau-Quartier. Herzstück des Viertels ist ein neu entwickelter Hybridspeicher, der Wärme bis 1200° Celsius speichern und rückverstromen kann.

Das Fernwärmenetz auf dem ehemaligen Militärgelände in Gießen ist gelegt, die Energiezentrale einsatzbereit und die ersten Wohngebäude sind bereits bezogen. Hier entsteht seit 2020 ein energieeffizientes Neubaugebiet, das einen innovativen Kern hat: Ein Hybridspeicher, der sowohl Wärme als auch Strom speichert. Über 400 Wohneinheiten sowie ein Gewerbepark mit fünf bis sechs Gewerbeeinheiten auf einer etwa zehn Fußballfelder großen Fläche (7,5 Hektar) profitieren davon: Energieressourcen können flexibel genutzt, der Eigenbedarf vermehrt lokal gedeckt sowie Netzkosten etwa für Netzausbau oder optimierte Netzbetriebsführung reduziert werden. Wichtige Voraussetzung hierfür ist eine intelligente, digitale Steuerung des Energiesystems im Quartier.

Wie Strom und Wärmeströme voneinander profitieren

Den Strom- und Wärmesektor vor Ort intelligent miteinander zu verknüpfen, ist Aufgabe von Projektleiter Professor Stefan Lechner (Technische Hochschule Mittelhessen) und seinem Team. Im vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geförderten Forschungsvorhaben FlexQuartier Gießen haben die Projektpartner ein energieeffizientes netzdienliches Quartier erschaffen. Neben der Technischen Hochschule Mittelhessen sind hieran die Stadtwerke Gießen, die Unternehmen Mittelhessen Netz und Smart Power sowie das Stadtplanungsamt Gießen beteiligt.

Bei der Stromversorgung des Quartiers setzen die Partner vor allem auf erneuerbare Energie aus Photovoltaik-Anlagen. Durch Mitwirkung der Stadt Gießen konnte sichergestellt werden, dass auf mindestens 50 Prozent der Dachflächen PV-Anlagen installiert werden. Dies entspricht einer Peakleistung von über 1000 Kilowatt. So kann etwa Strom, der von den Photovoltaik-Anlagen im Gießener Quartier erzeugt und nicht für den Eigenbedarf benötigt wird, im neuen Speicher zwischengespeichert und für das Laden von Elektrofahrzeugen aber auch für die Wärmeversorgung des Quartiers eingesetzt werden. Eine wichtige Säule sind hier elektrisch angetriebene Wärmepumpen. Über diese wird die Abwärme der Energiezentrale sowie die Umgebungswärme für die Bewohnerinnen und Bewohner nutzbar gemacht.

Energieaustausch über die Quartiersgrenzen hinaus

„Im Sommerhalbjahr kann die im Quartier lokal erzeugte Energie in Kombination mit dem neuen Speichersystem einen wesentlichen Teil des Energiebedarfs decken“, erklärt Projektmitarbeiter Felix Holy von der Technischen Hochschule Mittelhessen. Vor allem für die kälteren Monate ist es relevant, dass die Stadtwerke Gießen über ihr Fernwärmenetz erforderliche Wärmeenergie zuliefern. Diese basiert auf erneuerbaren Energiequellen sowie Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen.

Schematische Darstellung des FlexQuartiers und dessen energetische Anbindung über die Quartiersgrenzen hinaus. Quelle: Technische Hochschule Mittelhessen
Schematische Darstellung des FlexQuartiers und dessen energetische Anbindung über die Quartiersgrenzen hinaus. Quelle: Technische Hochschule Mittelhessen

Die Fernwärme wird auf einem Temperaturniveau zwischen 65 und 70 Grad Celsius geliefert, statt der üblichen 80 oder 110 Grad Celsius. Der Grund: „Wir verfolgen im Gießener Quartier einen LowEx-Ansatz. Das heißt, die Energiezentrale ist so konzipiert, dass die Gebäude auch mit Niedertemperaturwärme wie der Abwärme des Wärmespeichers oder Umgebungswärme versorgt werden können. Hierdurch sparen wir erhebliche Mengen Primärenergie ein“, so Holy.

Der Hybridspeicher macht auch bei der Stromversorgung einen „Energieaustausch“ über das Quartier hinaus möglich: Schwerpunktmäßig werden hier zusätzlich kommunale und überregionale Erzeugungsüberschüsse aus Photovoltaik, Windenergieanlagen oder negative Regelenergie gespeichert. Hierbei handelt es sich um Energie, die aus dem Stromnetz entnommen wird, um Schwankungen auszugleichen und die Stromnetzfrequenz auf dem optimalen Niveau halten zu können.

Dabei ist das Netz bidirektional konzipiert: Sowohl thermische als auch elektrische Energie kann in das Gießener Quartier eingespeist werden als auch aus dem Viertel heraus in das übergreifende Strom- oder Wärmenetz der Stadt Gießen abgegeben werden. Dies ermöglicht eine intelligente Lastregelung: Wenn zu viel Energie im Netz zur Verfügung steht, kann diese aufgenommen werden. Umgekehrt kann diese abgegeben werden, wenn sie im Netz benötigt wird. Auf diese Weise trägt das Quartier zur Netzdienlichkeit bei: Netzengpässe können kompensiert und der Bedarf für einen Netzausbau reduziert werden.

Neu: Wärme bis 1200° Celsius wird rückverstromt

Bisherige Speicher lassen sich in mechanische, elektrische, chemische und thermische Technologien einteilen. Der Hybridspeicher im FlexQuartier stellt eine Kombination dieser Kategorien dar. Das aus einem Batteriespeicher, einem LowEx-Wärmespeicher sowie einem neuartigen Hochtemperaturspeicher bestehende System unterscheidet sich von bisherigen Konzepten vor allem dadurch, dass hier Wärme rückverstromt wird.

Hierbei wird der einzuspeichernde Strom zunächst in sensible Wärme mit einem Temperaturniveau bis 1200° Celsius umgewandelt. Keramische Formsteine, die sich in einem isolierten thermischen Speicher befinden, speichern die Wärmenergie. Bei Bedarf wird diese mittels einer modifizierten Mikrogasturbine rückverstromt. Dazu wird bei der Entladung ein Luftstrom im thermischen Speicher erwärmt und in einen zweistufigen Rekuperator geleitet, welcher die Wärme auf einen verdichteten Frischluftstrom überträgt. Dieser wird wiederum von der Heißluftturbine entspannt und zur direkten Wärmerückgewinnung wieder in den Hochtemperaturspeicher geleitet.

Hier gelangen Sie zum virtuellen 3D-Rundgang durch den Hochtemperaturspeicher des Vorgängerprojektes "High-T-Stor". Der neue Speicher im FlexQuartier wird hinsichtlich modularem Aufbau, Speicherkapazität, Be-  und Entladeleistung sowie Wärmeverlusten optimiert. 

Nutzung der Abwärme sorgt für hohen Gesamtwirkungsgrad

Um den Gesamtwirkungsgrad der Anlage zu steigern, wird nach dem Prinzip der Kraft-Wärme-Kopplung zusätzliche Nutzwärme während der Rückverstromung ausgekoppelt. Diese kann in den Warmwasserspeicher oder bedarfsgerecht direkt in das Fernwärmenetz eingespeist werden. „Der extern beheizte Gasturbinenprozess ermöglicht eine effiziente Rückverstromung des Speichersystems und erlaubt einen drucklosen Betrieb des thermischen Speichers. Dadurch ist ein einfacher Aufbau mit geringen Installationskosten und verringerten Prüfungsaufwand möglich“, erläutert Holy.

Die in Gießen installierte Demonstrationsanlage konnte bereits die zuvor auslegte Speicherkapazität von etwa 9.900 Kilowattstunden experimentell nachweisen. Großanlagen mit deutlich höherer Kapazität von über 100 Megawattstunden sind möglich. Diese Energiemenge könnte während der Speicherentladung über 5.000 Haushalten einen Tag lang mit Strom und Wärme versorgen.

Der Projektleiter Lechner sieht das Hochtemperatur-Speichersystem zukünftig als einen wichtigen Baustein für eine energieeffiziente Stadt. „Durch die unkomplizierte Einspeicherung erneuerbarer Energien in Zeiten hoher Produktion und eine zeitversetzte Rückgewinnung von Strom und Wärme können ganze städtische Quartiere versorgt werden. Das System liefert Energie für Haushalte, Gewerbe und auch Elektrofahrzeuge.“ Im Vergleich zu anderen Technologien sei die Kapazität der Hochtemperaturspeicher zudem kostengünstig skalierbar. (bs)

Zuletzt aktualisiert am:
06.06.2024

EnEff:Stadt FlexQuartier Gießen

För­der­kenn­zei­chen: 03ET1607

Projektlaufzeit
01.12.2018 30.11.2023 Heute ab­ge­schlos­sen

The­men

Sektorkopplung, Netzdienlichkeit, Hochtemperaturspeicher, Stadtwerke, Fernwärme

För­der­sum­me: 4.575.009€

Kontakt

Koordination
Technische Hochschule Mittelhessen
Kompetenzzentrum für Energietechnik und Energiemanagement
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Stadtwerke Gießen AG
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Stadt Gießen
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Energieversorgung in Gebäuden und Quartieren

Im Fokus der Forschung zu energieoptimierten Gebäuden und Quartieren stehen effiziente und zugleich wirtschaftliche Versorgungsstrukturen. Systemische Ansätze statt Einzellösungen sind gefragt, um Sektorkopplung und Digitalisierung voranzutreiben und den Primärenergiebedarf im gesamten System durch die Integration erneuerbarer Energien deutlich zu senken.

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